Ehrenamt zwischen Ideal und Überlastung | Eine Leipziger Autorin denkt neu

Nancy Hochstein Ehrenfrau
Adelina Horn Creative Head

Wenn Nancy Hochstein über Fürsorge spricht, klingt das nicht nach Sanftheit, sondern nach Wucht, nach Verantwortung – und nach einem klaren Blick auf das, was viele lieber romantisieren: unbezahlte Arbeit.

Sie kennt das Ehrenamt aus allen Perspektiven – als Mutter, Trainerin, Aktivistin, Projektleiterin. Und sie weiß, wie schmal der Grat ist zwischen Engagement und Erschöpfung.

In ihrem neuen Buch denkt sie das Ehrenamt radikal neu – feministisch, solidarisch, fürsorglich. Nicht, weil sie es ablehnt. Sondern weil sie es liebt. Und weil sie will, dass es endlich als das gesehen wird, was es längst ist: politisch.

Das Ehrenamt braucht Struktur, nicht Heldentum.

Was Nancy Hochstein fordert, ist unbequem – und gerade deshalb wichtig. Ehrenamt, sagt sie, sei kein romantischer Ort der Aufopferung, sondern ein System, das auf unbezahlter Fürsorgearbeit basiert. Und das sich dabei oft auf die Selbstverständlichkeit weiblichen Engagements verlässt.

In Elternräten, Nachbarschaftsprojekten, Sportvereinen oder sozialen Initiativen sind es meist Frauen, die Verantwortung übernehmen, koordinieren, auffangen. Nicht, weil sie mehr Zeit hätten – sondern weil es gesellschaftlich so erwartet wird.

Wir reden über Empowerment und Teilhabe, aber gleichzeitig verlassen wir uns darauf, dass bestimmte Menschen einfach geben – ohne zu fragen, wie lange sie das durchhalten.“

sagt Nancy Hochstein

Zwischen Hoffnung und Erschöpfung

Ihr Buch liest sich wie eine Mischung aus Essay und Selbstgespräch. Zwischen analytischer Schärfe und persönlicher Erfahrung. Nancy Hochstein schreibt über die Schönheit des Miteinanders, aber auch über die Erschöpfung, die daraus entsteht, wenn Verantwortung immer wieder auf denselben Schultern landet.

Sie weiß, wie sich das anfühlt, wenn man in einem Projekt steckt, das eigentlich allen gehört – und am Ende doch wieder selbst die Letzte ist, die das Licht ausmacht.

Trotzdem ist in ihren Worten keine Bitterkeit. Eher eine Zärtlichkeit gegenüber all jenen, die sich trotzdem weiter kümmern. Ihre Vision: Ehrenamt als Ort geteilter Verantwortung, als Raum für gegenseitige Fürsorge – statt selbstverständlicher Selbstaufgabe.

Im Interview mit Nancy Hochstein | Podcast-Folge #22

Ein Gespräch über Mut, Zweifel und das Recht, Grenzen zu ziehen. Im Interview spricht die Leipziger Autorin über Haltung, Verantwortung – und Momente, in denen Kümmern zur Kraftquelle wird. Das ganze Interview gibt’s hier im Video.

Leipzig, Vereine und die unsichtbare Arbeit

Was Nancy Hochstein beschreibt, zeigt sich auch auf lokaler Ebene. In Leipzigs Stadtteilen tragen viele Initiativen und Vereine das soziale Leben – oft von Frauen organisiert, in Teilzeit, nach Feierabend, mit Herzblut und Improvisationstalent. Sie halten Strukturen zusammen und schaffen gleichzeitig Räume, in denen Gemeinschaft überhaupt erst möglich wird. Doch Anerkennung bleibt rar.

Nancy Hochsteins Analyse trifft also auch hier ins Zentrum: Wenn Fürsorgearbeit sichtbar würde – in Zahlen, Zeit und Emotion – würde sich die Gesellschaft selbst anders verstehen.

Fürsorge als Widerstand

Besonders wichtig ist Nancy Hochstein, von Fürsorge als politischer Praxis zu sprechen. Sie meint damit nicht das freundliche Kümmern im Kleinen, sondern eine Haltung, die Strukturen in Frage stellt. Eine Fürsorge, die Grenzen zieht, Macht hinterfragt und Verantwortung teilt.

Sichtbarkeit ist kein Luxus. Sie ist eine Frage von Macht.

Und genau das spürt man auf jeder Seite ihres Buches – und auch im Gespräch mit ihr: die Entschlossenheit, den leisen Themen Gewicht zu geben.

Was bleibt?

Nancy Hochstein schreibt gegen eine Schieflage an, die viele kennen, aber kaum jemand benennt. Ihr Blick ist analytisch, aber nie kalt. Politisch, aber nie abgehoben. Sie schreibt, um Strukturen sichtbar zu machen – und um den Menschen, die sich täglich einsetzen, Würde zurückzugeben.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Fürsorge ist keine private Tugend. Sie ist ein gesellschaftlicher Wert. Und wer sie ernst nimmt, verändert mehr als nur Strukturen – er verändert, wie wir miteinander leben.

WANN? WIE? WO?

Ehrenfrau | Ehrenamt neu gedacht
feministisch, solidarisch, radikal fürsorglich
Erschienen bei Palomaa Publishing 2025
Autorin: Nancy Hochstein
Zum Buch „Ehrenfrau“

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